Die Publikationen über Alfred Hitchcock sind so zahlreich wie unübersichtlich. Aus der Menge an Veröffentlichungen ragt eine ganz besonders heraus. François Truffauts Band mit den von ihm geführten Interviews mit Alfred Hitchcock gilt nach wie vor als eines der wichtigsten Werke der Filmliteratur überhaupt. Das Buch ist gleichzeitig eine Regisseur-Biographie, eine Hommage, ein Lehrbuch über den Film und das Filmemachen und eine große Hitchcock-Retrospektive. Erstmals erschienen 1966 wurde der Band immer wieder überarbeitet und ergänzt, bis er 1980 in einer endgültigen Version erschien. Bedeutsam sind auch die renommierten Arbeiten von Robin Wood und Enno Patalas , die ebenfalls im Laufe der Jahre nach Hitchcocks Tod mehrmals aktualisiert wurden.
Doch auch zwanzig Jahre nach Hitchcocks Tod scheint die Faszination seiner Filme ungebrochen und das Ende der Hitchcock-Bibliografie nicht in Sicht. Zu seinem 100. Geburtstag erschien 1999 der
umfassende, nüchtern betitelte Sammelband "Alfred Hitchcock", herausgegeben von Lars-Olav Beier und Georg Seeßlen, an dem nicht weniger als knapp fünfzig Autoren und Autorinnen beteiligt sind.
Vier Jahre später folgte mit Paul Duncans "Alfred Hitchcock – Sämtliche Filme" eine weitere Retrospektive. Beide Bücher nehmen für sich in Anspruch, eine umfassende Werkschau des Regisseurs
vorzulegen. Duncan deutet dies bereits im Titel an, bei Beier/Seeßlen weist spätestens das umfangreiche Inhaltsverzeichnis darauf hin, dass man jedem der 54 Filme des Regisseurs eine eigene
Besprechung widmet, die fast durchgängig von verschiedenen, teilweise namhaften Autoren und Filmwissenschaftlern verfasst worden sind. Neben den Herausgebern kommen beispielsweise Thomas
Elsaesser und Klaus Kreimeier ebenso wie der deutsche Erfolgsregisseur Tom Tykwer zu Wort.
Den erste Teil dieses knapp 500 Seiten umfassenden Bandes bildet jedoch eine Zusammenstellung von zehn Essays und einem Interview, die wiederum nicht alle eigens für dieses Buch verfasst wurden.
Das bereits 1982 geführte Interview mit Hitchcocks langjähriger Privatsekretärin, Drehbuchautorin und Produzentin Joan Harrison wirkt als Einleitung etwas deplatziert. Ihre Erfahrungsberichte aus
der Zeit zwischen 1955 und 1962 als Produzentin von Hitchcocks Fernseh-Nebentätigkeit als Gastgeber, Moderator und Gelegenheitsregisseur in Alfred Hitchcock Presents bzw. The Alfred Hitchcock
Hour wären als Komplettierung zu Frank Arnolds später folgendem Kapitel Du hast nur 23 Minuten sinnvoller platziert gewesen. Arnold geht hier detailliert auf Hitchcocks beiläufige Fernsehkarriere
und deren Auswirkungen auf seine Filme ein, in dieser Form ein Novum der Hitchcock-Literatur, die diesem Karriereabschnitt zuweilen wenig bis gar keine Bedeutung beigemessen hatte. Auf der Suche
nach dem Dandy in Hitchcock lotet Thomas Elsaesser in seiner Untersuchung das psychologische Verhältnis zwischen der Privatperson, dem Arbeiter und dem selbstinszenierten Star zu seinen Filmen
aus. Auf eine dezidiert biografische Vorstellung des Regisseurs verzichtet der Band allerdings gänzlich und fokussiert stattdessen bereits im Essay-Teil primär mit ganzheitlichen Analysen und
filmwissenschaftlichem Anspruch die Methodik von Hitchcocks Arbeit und die unterschiedlichen, wiederkehrenden Motive sowie Figurenkonstellationen in seinen Filmen. Brigitte Desalm untersucht die
Bedeutung der Blicke und die visuelle Darstellungskraft der Kamera, während Lars-Olav Beier in seinem immer wieder auch amüsanten Abschnitt auf die kalkulierte Willkür in Hitchcock-Filmen
eingeht. Vom Autor mit entlarvender Penibilität dargelegt, erfährt der Leser die dreistesten Ungereimtheiten, die der Filmemacher seinen Zuschauern untergejubelt hat.
Einer der wenigen Momente des Buches, in dem man etwas über Hitchcocks Verhältnis zu seinen Mitarbeitern erfährt, findet sich in Markus Baucks Kapitel Klingende Bilder. Insgesamt etwas zu knapp
ausgefallen, betont das Essay nicht nur die immense Konnotation der Soundtracks im Oeuvre Hitchcocks, sondern auch die starken Beziehungen und künstlerischen Abhängigkeiten zu seinen Komponisten,
insbesondere zu Bernard Herrmann. Pointiert schildert Bauck die äußerst fruchtbare Zusammenarbeit in den 50er Jahren bis zum Bruch Mitte der 60er Jahre, der gleichsam auch Hitchcocks letzte, als
schwächer geltende Schaffensphase einläutete.
In Mr. Hitchcock would have done it better eruiert Georg Seeßlen abschließend den Einfluss Hitchcocks auf die ihm folgende Generation von Filmemachern, beschreibt ihre Fehler und untersucht den
künstlerischen Gehalt von diversen Sequels und Remakes. Dabei stellt er eine Reihe von Theoremen auf, die mitunter nur schwer nachvollziehbar sind bzw. weit hergeholt erscheinen und verzichtet
unverständlicherweise gänzlich auf die offensichtlichen Reminiszenzen der Filmemacher der Nouvelle Vague wie Truffaut, Rohmer oder Chabrol.
Der folgende, 200 Seiten umfassende Rezensionsteil bietet eine übersichtliche, chronologische Auflistung aller erhaltenen Filme des Regisseurs. Wie Beier im Vorwort bereits andeutet, sind die
Herangehensweisen der Autoren dabei sehr verschieden: filmhistorisch, enthusiastisch, stilanalytisch, subjektivistisch und respektlos. Auch wenn Beier betont, das Werk des Regisseurs nicht
erschöpfend behandeln zu können, kann man über die enttäuschenden Resultate einiger Kritiken nicht hinwegsehen. Irene Rudolf verwendet beispielsweise den eng gestreckten Rahmen in ihrer
Besprechung zu Rope primär zur Darstellung der dem Film zugrunde liegenden wahren Begebenheiten und der daraus resultierenden Theatervorlage, während Ulrich von Berg seinen Verriss von Torn
Curtain zu einer belanglosen, verallgemeinernden Diffamierung missbraucht. Darüber trösten jedoch eine Vielzahl exzellenter Texte hinweg, wie Helmut Merkers erkenntnisreiche Analyse zu Rear
Window oder die kritischen Anmerkungen von Veronika Rall zu Spellbound. Positiv ist hervorzuheben, dass man sich um einen ausgewogene Gewichtung bemüht hat. Den renommierten Klassikern der 50er
und 60er Jahre wird nur unwesentlich mehr Platz eingeräumt als den weniger geläufigen Frühwerken aus Hitchcocks Stummfilmära bzw. seiner gesamten englischen Periode.
Paul Duncan verfolgt in seinem knapp 200seitigen Buch eine andere Strategie. Die kurze Einführung "Die Angst vorm Fallen" muss reichen, um zumindest ein wiederkehrendes Motiv in Hitchcocks Werken
näher zu beleuchten, nachdem der Regisseur und einige seiner wichtigsten Filme und Schauspieler auf den ersten Seiten kurz vorgestellt werden. Es folgen drei weitere, in Karriereabschnitte
unterteilte Kapitel, in denen Duncan seine Filmbesprechungen in eine Biografie einbettet. Verzichtet der Beier/Seeßlen-Band fast völlig auf Hitchcocks biografischen Werdegang, gelingt Duncan in
"Ein junges Genie" eine informative Darstellung von dessen durch streng katholische Erziehung geprägte Kindheit, über seine ersten Karriereschritte im Filmgeschäft als Zeichner für Zwischentitel
bis hin zu seinen Lehrjahren in Deutschland und seinem dort realisiertem Regiedebüt. Auch Hitchcocks Ehe mit seiner Mitarbeiterin Alma Reville wird thematisiert, bevor der Schwerpunkt auf seine
in England gedrehten Filme gelenkt wird. Es wird jedoch schnell deutlich, dass hier keine nuancierten und tief greifenden Besprechungen zu erwarten sind. Ähnlich wie im nächsten Abschnitt, der
bei Hitchcocks Immigration beginnt, wird Duncan seiner Ankündigung, sämtliche Filme abhandeln zu wollen, nur äußerst unzureichend gerecht. Vom Autor für vernachlässigbar gehaltene Filme werden
sporadisch erwähnt und nur lapidar in wenigen Sätzen skizziert. Stattdessen wird der Leser ausführlich über das hinreichend bekannt schwierige Verhältnis zwischen Hitchcock und dem Produzenten
David O. Selznick aufgeklärt.
Dass Duncan durchaus in der Lage ist, Hitchcocks Werken filmanalytisch beizukommen und ihnen erhellende Erkenntnisse abzugewinnen, beweist er immer dann, wenn er dafür den entsprechenden Platz
einräumt. Das geschieht jedoch relativ selten, da ein Großteil des Bandes für die opulente Bebilderung aufgewendet wird. Die Illustration spielt sowohl in Duncans Ausgabe als auch im
Beier/Seeßlen-Band eine gewichtige Rolle. Beide Publikationen warten mit unzähligen Fotos und Storyboardzeichnungen auf. Während Beier/Seeßlen vorwiegend ganze Szenen anhand kleiner
schwarz-weiß-Filmstills nacherzählen, um dem Leser exemplarisch den Inhalt der Texte visuell näher zu bringen und zu versinnbildlichen, dokumentiert Duncan mit seinen teilweise ganzseitigen
Abbildungen primär Hitchcocks Arbeit am Set, die er mit zahlreichen Pressefotos in Farbe ergänzt. Dies gewährt zwar interessante und seltene Einblicke hinter die Kulissen eines Hitchcock-Films,
lässt das Buch jedoch mitunter wie einen Bildband erscheinen, zumal er sich großformatig auf Hochglanz präsentiert und die Verwendung der Illustrationen nicht immer durch Duncans Text motiviert
worden zu sein scheinen.
Abschließend bieten beide Titel eine Übersicht über sämtliche Cameo-Auftritte Hitchcocks in seinen eigenen Filmen. Beier/Seeßlen tun dies im Rahmen einer umfassenden, auch die Fernsehrarbeiten
einschließenden Filmografie, die bei Duncan wiederum mit einer gelungenen Zusammenstellung historischer Filmplakate bebildert wird.
Beide Bände erscheinen in ihren Verlagen in einer Serie über verdiente Regisseure und Schauspieler und stehen exemplarisch für die verschiedenen Intentionen, die verfolgt werden. Wendet sich der
Bertz-Verlag mit wissenschaftlich fundierten Ausgaben, die den aktuellen Forschungsstand zu ihren Themen berücksichtigen, zwar nicht ausschließlich an ein Fachpublikum, so bietet er doch einen
verhältnismäßig anspruchsvollen Diskurs im Gegensatz zum Taschen-Verlag, der in optisch schickem Design Filmwissenschaft für Jedermann anbietet. Duncans hübsche, weitaus günstigere Ausgabe, die
vor allem an ihrer Unentschlossenheit krankt und weder eine vollständige Biografie noch eine dezidierte Film-Retrospektive darstellt, ermöglicht dennoch durchaus einen ersten Einstieg in die
Materie, der dann ggf. durch den Beier/Seeßlen-Sammelband, der sich aufgrund seiner übersichtlichen Struktur auch hervorragend als Nachschlagewerk eignet, vertieft werden kann.
Man kann resümieren, dass es nicht gelingen wird, der überwältigenden Bibliografie, die über Hitchcock bereits existiert, einen definitiven Band hinzuzufügen. Truffauts Interviewdokument bleibt
auch in den gegenwärtigen Analysen und Publikationen die mit großem Abstand meist zitierte Quelle und wird in zunehmenden Maße selbst zum Forschungsgegenstand. Für eine eingehende
Auseinadersetzung mit Hitchcocks Oeuvre bleibt dieses Werk, vor allem in der 1999 auch in Deutschland erschienen großformatigen Hardcoverversion, nach wie vor unersetzlich, wenngleich sich eine
Erweiterung durch den Beier/Seeßlens-Band uneingeschränkt empfiehlt.